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HANS SELYE

 
     
  HANS SELYE und die Lehre vom Streß. Lebensdaten: 1907 - 1982. Streß zu verstehen ist nicht schwer. In ihm manifestieren sich nichts anderes als die Folgen, die das Leben in einer unsicheren Welt mit sich bringt. Er ist zu einer alltäglichen Sache geworden; es gibt hundert Arten, sich Streß zuzuziehen, und zahllose Methoden, mit ihm fertig zu werden: von Massagetherapien über Vitamine bis hin zur Meditation. Von Natur aus demokratisch, kann er alle befallen, abgesehen vielleicht von denjenigen, die in klösterlicher Abgeschiedenheit leben oder sich als auserwählt betrachten dürfen. Streß kann für fast alles, was einem widerfährt, verantwortlich gemacht werden, und alle können über ihn reden, ohne verlegen zu werden. Er ist mittlerweile so populär geworden, daß man oftmals vergißt, daß sich mit ihm die wissenschaftliche Medizin beschäftigt, daß er eine ganze Reihe von Forschungsarbeiten anregte und daß durch ihn der oftmals vernachlässigte Zusammenhang zwischen Medizin und Psychologie wieder in den Vordergrund rückte. Damit stellt er ein provokatives Gegengewicht zur reduktionistischen Einseitigkeit eines Großteils der medizinischen und biologischen Forschung dar. Dahinter steht eine Perspektive, die im besten Sinne des Wortes als holistisch zu bezeichnen ist. Begründet wurde die Lehre vom Streß durch den Arzt Hans Selye. Hans Hugo Bruno Selye wurde am 26. Januar 1907 in Wien als Sohn von Maria Felicitas Langbank und dem Chirurgen Hugo Selye geboren. Selyes anfängliche Ausbildung fand durch eine Gouvernante im Elternhaus statt, später besuchte er das Benediktiner-Kollegium. 1924 begann er an der deutschen Universität in Prag das Studium der Medizin, verbrachte ein Jahr an den Universitäten in Paris und Rom, bevor er 1929 sein medizinisches Examen ablegte. Es folgten Studien zur organischen Chemie, 1931 promovierte er. Er wanderte in die USA aus, verbrachte ein Jahr an der John Hopkins University, bevor er an die McGill University in Montreal wechselte, wo er 1933 eine Dozentenstelle für Biochemie übernahm. Selye erzählte oft die Geschichte seiner Entdeckung des Streß; eine ungewöhnliche wissenschaftliche Fabel, die von Enttäuschungen und Offenbarungen handelt. Die erste Idee dazu geht auf das Jahr 1925 zurück, als er noch Medizinstudent war. Bei den klinischen Visiten fiel ihm auf, daß viele Patienten, die an unterschiedlichen Krankheiten litten, in der Frühphase der Erkrankung die gleichen Symptome zeigten. Belegte Zungen, allgemeine Schmerzen, Magenprobleme, Gewichtsverlust und andere Symptome waren charakteristisch für viele Krankheiten. Die Professoren wiesen auf sie zwar hin, schenkten ihnen aber keine Beachtung und konzentrierten sich vielmehr auf die spezifischen Symptome, zum Beispiel auf das Anschwellen der Ohrspeicheldrüsen bei Mumps. Selye fragte sich, warum die unterschiedlichsten Krankheiten besonders in der Frühphase eine ganze Reihe von gleichen Symptomen aufwiesen. Fast ein ganzes Jahrzehnt verlor er das »Syndrom, nur krank zu sein«, aus den Augen. Erst 1935 entdeckte er es wieder. Auf der Suche nach einem Rinderhormon - die Endokrinologie war ein neues und expandierendes Feld -injizierte er Ratten ein Extrakt aus Rinderovarien. Dies rief charakteristische Reaktionen hervor. Die äußere Schicht der Nebennierenrinde vergrößerte sich, während der Thymus sich zusammenzog und blutende Geschwüre im Magen und in den Eingeweiden auftraten. Solche Symptomgruppen waren vorher noch nie beobachtet worden, und zunächst glaubte er, daß er ein neues Sexualhormon entdeckt hatte. Seine Hochstimmung hielt nicht lange an. Als er Ratten alle möglichen Organextrakte injizierte - von der Plazenta, der Milz und den Nieren - tauchten dieselben Symptome auf. Seine Hoffnung, ein neues Hormon entdeckt zu haben, war dahin, bis, wie er später schrieb, »mein Blick auf eine Flasche mit Formalin fiel, die zufällig auf dem Regalbrett vor mir stand.« Und nun injizierte er den Tieren diese giftige Substanz, die normalerweise zur Aufbewahrung von Gewebeproben diente. Und es schien, als würde jede toxische Substanz zu den beschriebenen Reaktionen führen. »Ich glaube nicht, daß ich jemals gründlicher enttäuscht worden war. Plötzlich waren alle meine Träume, ein neues Hormon zu entdecken, zerstört.« Dann allerdings erinnerte er sich an seine Studententage. Er rief sich die Symptome ins Gedächtnis, die viele der an Infektionskrankheiten leidenden Patienten gezeigt hatten, und erkannte in ihnen Ähnlichkeiten mit der vergrößerten Nebennierenrinde, dem verkleinertem Thymus und dem Magengeschwür seiner Versuchsratten. Und ihm fiel ein, daß viele Krankheiten im Grunde gleich behandelt wurden: Patienten wurde geraten, sich auszuruhen, einfache Nahrung zu sich zu nehmen und sich warm zu halten. »Wenn wir nachweisen könnten«, schrieb Selye, »daß der Organismus über ein allgemeines, nicht spezifisches Reaktionsmuster verfügt, mit dem er auf die potentiellen Schäden durch krankheitsauslösende Faktoren antwortet, dann könnten wir diese Verteidigungsreaktion einer streng objektiven und wissenschaftlichen Analyse unterziehen.« Das Konzept des Streß war geboren. Selyes erster Aufsatz über Streß wurde 1936 als Brief an den Herausgeber in Nature abgedruckt. Bald darauf entwickelte er das Allgemeine Anpassungssyndrom, die Vorstellung, daß jeder äußere Reiz neben einer spezifischen Wirkung am Angriffsorgan unspezifische Allgemeinreaktionen (Streß) hervorruft. Er unterteilte es in drei Phasen. Dem ersten Streßstadium, der Alarmreaktion, folgen das Widerstandsstadium und schließlich das Erschöpfungsstadium. Das sind keineswegs nur beschreibende Ausdrücke, sondern beziehen sich darauf, daß der Körper zunächst Kortikoide (in der Nebenniere gebildete Hormone) ausschüttet, sie -falls keine Besserung eintritt - vermehrt produziert, bis sie schließlich verbraucht sind. Selye sah in Streßreaktionen ursprünglich reine Hormonreaktionen. Später entdeckte man die große Bedeutung der Hypophyse, der Hirnanhangdrüse, die am Hypothalamus sitzt. Gegenwärtig nimmt man an, daß Neurotransmitter die Sekretion von Neurohormonen steuern, die wiederum die Freisetzung des Adrenokortikotrophin-Hormons (ACTH) regulieren; erst das löst die Streßreaktion aus. Wie bei allem, was mit dem Gehirn zu tun hat, ist der genaue chemische Ablauf dieser Reaktion noch lange nicht geklärt. Die Lehre vom Streß wurde zunächst mit Vorbehalten aufgenommen. Walter B. Cannon, der das Konzept der Homöostase entwickelt hatte, hielt mit seiner Kritik nicht zurück. Selye sagte später: »Nur wenige der erfahrenen, anerkannten Forscher, deren Urteil ich trauen konnte, stimmten mit meiner Sichtweise überein, und war es schließlich nicht dumm und anmaßend vor mir als Anfänger, daß ich ihnen widersprach? Vielleicht hatte ich nur eine verschrobene Sichtweise, vielleicht verschwendete ich nur meine Zeit?« Selye sicherte sich allerdings die Unterstützung von Sir Frederick Banting; der Kanadier, der bei der Verwendung des Insulin gegen Diabetes Pionierarbeit geleistet hatte, verhalf ihm zu einem kleinen Forschungsstipendium, und obwohl auch in den nächsten Jahren der Widerstand gegen das Streß-Konzept nicht nachließ, lieferte Selyes 1950 erschienene Monographie Streß eine beeindruckende Reihe von experimentellen Beweisen. Selye begann, ein dem Streß gewidmetes Jahrbuch herauszugeben, und neue Entdeckungen in der Endokrinologie schienen die Theorie zu bestätigen. Durch eigene und fremde Forschungsarbeiten konnte Selye schließlich bei einer großen Zahl von Krankheiten Streßkomponenten ausmachen: bei Herzkranzgefäßkrankheiten und Herzproblemen, Entzündungen und allergischen Reaktionen, selbst bei Infektionskrankheiten wie der gewöhnlichen Erkältung. Auch psychosomatische Leiden, von Verdauungsproblemen bis hin zur Fettleibigkeit und sexuellen Beschwerden, werden häufig mit Streß in Beziehung gesetzt. 1975 konnte Selye darauf verweisen, daß es einhundertzehntausend Veröffentlichungen über Streß gebe, wovon über dreißig Bücher und eintausendfünfhundert Aufsätze von ihm selbst stammen. Sein 1956 erschienenes Streß beherrscht unser Leben wurde zu einem Klassiker, einige Jahre später veröffentlichte er Stress without Distress, in dem er die Bedeutung der Kreativität und der Fähigkeit, sich auszudrücken, betont und auf transzendentale Meditation und Hare Krishna eingeht. Manchmal sind seine Schriften höchst didaktisch, er sagt seinen Lesern, wie sie zu schlafen haben und daß sie das Leben nehmen sollten, wie es kommt. Für Wissenschaftler verfaßte er sogar ein Anleitungshandbuch, Vom Traum zur Entdeckung, in dem er ihnen nahelegt, wie sie sich zu benehmen, zu denken und zu arbeiten hätten. Er hielt an der anachronistischen Sichtweise einer »zweckgerichteten Kausalität« fest und stimmte mit seinem Wiener Landsmann KONRAD LORENZ in einer »arterhaltenden sinnvollen Teleonomie« überein. In der Wissenschaft fanden diese Formulierungen damals wie heute keine Unterstützung. Obwohl die Lehre vom Streß mittlerweile als etabliert gilt, erfuhr sie in den letzten Jahren verschiedene Abwandlungen. Streßforscher unterscheiden mittlerweile zwischen sozialem, körperlichem und psychologischem Streß, von Bedeutung ist auch, wie man mit ihm »umgeht«. Richard S. Lazarus und andere verwiesen auf die hohe Sensibilität des Hormonsystems gegenüber emotionalen Reizen und griffen deswegen den Grundsatz an, Streß sei eine rein unspezifische Reaktion auf bestimmte Auslösefaktoren. Die Tatsache, daß einem kalt ist, muß daher nicht denselben Streß auslösen wie der Umstand, daß einem unangenehm kalt ist. Aber das sind nur Akzentverschiebungen, in denen sich das Interesse widerspiegelt, das Psychologen der Lehre und der wachsenden Bedeutung von Streßmanagement-Strategien entgegenbringen. Selye war ein energiegeladener Wissenschaftler, der sich das ganze Leben lang körperlich fit hielt und zehn Sprachen sprach. Von 1945 bis zu seiner Pensionierung 1975 war er Professor und Direktor am Institut für experimentelle Medizin und Chirurgie der Universität Montreal. Zugleich war er Vorsitzender des von ihm 1976 gegründeten Internationalen Instituts für Streß. 1930 heiratete er Frances Rebecca Love, 1949 Gabrielle Grant und 1978 Louise Drevet. Er war ein Workaholic und, nach den Tagebuchauszügen zu urteilen, die in seiner Autobiographie Streß, mein Leben enthalten sind, kein einfacher Mensch. Er war der Meinung, daß nur wenige Wissenschaftler »für ihre Familie oder für die politischen Probleme soviel Zeit aufbringen, wie das der gute Durchschnittsbürger tun sollte.« Wie viele Streßforscher, die nach ihm kamen, war er von einem eher abstrakten, durchaus ehrlichen Mitgefühl angetrieben. »Meiner Meinung nach«, schrieb er, »gehören ein warmherziges Verhalten gegenüber unseresgleichen, besonders die Anteilnahme an allen, die an Krankheit, Armut oder Unterdrückung leiden, zu den höchsten Vorzügen der Menschheit.« Hans Selye starb am 16. Oktober 1982.  
 

 

 

 
 
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