|
ALFRED KINSEYund die Sexualität des Menschen. Lebensdaten: 1894 - 1956. Die Sexualität des Menschen wurde erst im 20. Jahrhundert zum Thema der Wissenschaft, als sich das Leben der Bewohner in den entwickelten Industriegesellschaften in Arbeitszeit und Freizeit aufspaltete und sie vor, während und manchmal auch außerhalb der Ehe geschlechtliche Beziehungen pflegten. Die Psychoanalyse entdeckte mit Hilfe der Biologie die kindliche Sexualität und deren Bedeutung für das Seelenleben der Erwachsenen. Aber das eigentliche geschlechtliche und autoerotische Verhalten von Männern und Frauen blieb mehr oder minder rätselhaft, bis Alfred Kinsey nach dem Zweiten Weltkrieg zwei Bücher veröffentlichte, deren statistische Erhebungen einer Offenbarung gleichkamen. Seine Arbeit war in den nachfolgenden Jahrzehnten für die weitere Entwicklung der Sexualwissenschaft von immenser Bedeutung. Kinsey »verlangt nicht wegen seiner profunden oder eleganten Einsichten unsere Aufmerksamkeit«, schreibt der Historiker Paul Robinson. »Er ist wichtig, da er einflußreicher war als jeder andere Sexualwissenschaftler« in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Alfred Kinsey wurde am 23. Juni 1894 in Hoboken, New Jersey als Sohn von Alfred Seguine Kinsey und Sarah Ann Charles geboren. Sein Vater war Professor für Ingenieurswesen am Stevens Institute of Technology, ein strenger Mensch, der sehr auf Disziplin achtete. Einer Anekdote zufolge, schickte er seinen Sohn zum Zigaretten holen, die nicht an Minderjährige verkauft werden durften, um dann die Behörden zu informieren und den Ladenbesitzer anzuzeigen. Kinsey war ein schwächliches Kind, er trat während der Pubertät den Pfadfindern bei, war schüchtern gegenüber Mädchen und zitierte in seinem Schuljahresbuch Hamlet. »Männer finden keinen Gefallen an mir, noch Frauen.« Nach dem Abschluß der High School kam er dem Wunsch seines Vaters nach und trat am Stevens Institute ein, wo er Maschinenbau studieren wollte. Mit zwanzig Jahren verkündete er jedoch, Biologe werden zu wollen, und wechselte mit Hilfe eines Stipendiums ans Bowdoin College in Brunswick, Maine. Der Studienplatzwechsel führte zum Bruch mit dem Vater, der jegliche finanzielle Unterstützung einstellte (und ihm zum Abschluß einen fünfundzwanzigDollar-Anzug schenkte). 1916 graduierte er in Bowdoin, studierte dann am Bussey Institute an der Universität Harvard Taxonomie und erwarb 1920 seinen Doktor der Naturwissenschaften. Dort begann er sich für die in den USA weitverbreiteten Gallwespen zu interessieren und reiste imganzen Land umher, um Exemplare zu sammeln. Er hoffte, durch sie zu eindeutigen Hinweisen auf die Evolution zu kommen (und um ihre verschiedenen Maße aufzuzeichnen, entwickelte er ein Kürzelsystem, das er auch später bei seinen Interviews zur Sexualität anwandte). An der Universität von Indiana, wo er ab 1920 lehrte, schuf sich Kinsey in den nächsten zwei Jahrzehnten einen soliden Ruf als Familienvater und Professor. 1921 heiratete er Clara Bracken McMillen, mit der er vier Kinder aufzog. An der Universität wurde er zur weltweit führenden Autorität über Gallwespen, von denen er über vier Millionen Exemplare zusammentrug, die er letztlich dem American Museum of Natural History in New York schenkte. Daneben verfaßte er einige Lehrbücher, darunter An Introduction in Biology. Das Interesse am menschlichen Sexualleben erwachte in ihm, als ihn 1938 die Universität bat, einen Kurs über die Ehe zu leiten. Zu seiner Überraschung stellte er fest, daß es zum Sexualverhalten kaum statistisches Material gab. »Viele Veröffentlichungen über die Sexualität«, schrieb er später, »bestanden aus einem Sammelsurium an moralischen Werturteilen, philosophischen Theorien und wissenschaftlichen Fakten.« Die Interviews, die er daraufhin mit seinen Studenten über ihr Sexualverhalten führte, stellten die Grundlage für seine späteren Studien dar. Kinseys unmißverständliches Bemühen, objektive Daten zur Sexualität zu erhalten, veranlaßte die Universität, ihn zu bitten, den Ehe-Kurs abzutreten. In relativ kurzer Zeit hatte er mehrere hundert Interviews angesammelt. 1941 erhielt er die Unterstützung der Rockefeller Foundation (die sich bereits seit den 20er Jahren für Sexualität interessierte), und sein Team wurde durch den Anthropologen Paul Gebhard, den Statistiker Clyde Martin und den Psychologen Wardell Pomeroy verstärkt. Nach den ersten Interviews mit seinen Studenten dehnte er den zu befragenden Personenkreis aus, der allerdings noch immer kaum als repräsentativ zu bezeichnen war, da Strafgefangene und Homosexuelle eindeutig. in der Überzahl waren. Kinsey stand der Homosexualität für jene Zeit außergewöhnlich tolerant gegenüber. Die herrschende Meinung, sie sei eine angeborene Abnormität, wies er ebenso zurück wie die These der psychoanalytischen Nosologie, der zufolge sie teilweise durch die Erziehung verursacht werde. Obwohl er sich einhunderttausend Fallstudien als (unerreichbares) Ziel setzte, konnte er schließlich auf achtzehntausend Interviews zurückgreifen. Sein Fragebogen bestand, abhängig von den Neigungen des Befragten, aus bis zu dreihundertfünfzig Punkten und behandelte soziale und wirtschaftliche Themen, körperliche Daten und die persönliche, individuelle Sexualgeschichte. Die Interviewtechnik war so gestaltet, daß die Verläßlichkeit der Ergebnisse gewährleistet wurde. Die Interviewer - sie waren alle verheiratet, männlichen Geschlechts und vertraten politisch gemäßigte Überzeugungen - gingen davon aus, daß die Befragten alle Formen des Sexualverhaltens ausgeübt haben; Fragen wurden unpersönlich und in schneller Abfolge gestellt, moralische Werturteile wurden nicht vergeben. Wenn sich die Befragten dem Interviewer in sexueller Absicht näherten, was manchmal vorkam, riet Kinsey zu totaler Passivität, damit sich die Situation abkühlen konnte. 1948 erschien Das sexuelle Verhalten des Mannes. Das Buch wurde von der Öffentlichkeit positiv aufgenommen, Mediziner, Psychiater, Sozialwissenschaftler und sogar Literaturkritiker besprachen es und hielten mit Kritik nicht zurück. Das sexuelle Verhalten der Frau wurde 1954 veröffentlicht und zog sich den Zorn der Kirche und einiger Wissenschaftler zu, an deren Spitze die Anthropologin Margaret Mead stand, die meinte, es dürfe nicht zu einem Bestseller werden, damit die jungen Leute vor seinen Erkenntnissen verschont blieben. Einige Kirchenvertreter vermuteten, die Kommunisten hätten das Buch lanciert, während die Kommunisten es für reaktionär hielten. Die Rockefeller Foundation entzog dem Buch die Unterstützung, und Ward Pomeroy schrieb in seiner exzellenten Biographie Dr. Kinsey and the Institute for Sex Research: »Die eineinhalb Jahre vor Kinseys Tod waren eine dunkle Zeit.« Nach einer Europareise 1955 erlitt Kinsey eine Herzembolie und verstarb am 25. August 1956. Obwohl Kinsey noch immer umstritten ist, schrieb ihm Pomeroy nicht weniger als acht wichtige Errungenschaften zu. Die Forschung selbst und die Errichtung des KinseyInstituts waren Meilensteine. Kinsey entwickelte eilte statistischen Grundlagen für vor- und außerehelichen Geschlechtsverkehr und für die Masturbation. Sein 0-6-Skala für homosexuelles Verhalten und seine Vorstellung des »total outlet«, der sexuellen Ausdrucksformen, haben sich als nützlich erwiesen. Seine Erkenntnisse, daß sich Sexualverhalten mit dem jeweiligen sozialen Status ändert und sexuelle Aktivitäten auch im Alter andauern können, waren etwas grundlegend Neues. Am bedeutendsten aber war Kinseys Entdeckung der individuellen Variationsbreite sexuellen Verhaltens. Daß er diese Spielarten bei Männern und Frauen, sowohl in ihrer sexuellen Orientierung als auch in ihrer Praxis, festhielt, war Kinseys großer Beitrag zur Wissenschaft. Außerehelicher Geschlechtsverkehr, Homosexualität, Sodomie - alles wurde von Kinsey und seinen Helfern mit der gleichen kühlen Distanziertheit aufgenommen. Zu einer Zeit, als bei der amerikanischen Marineakademie Masturbation noch ein offizieller Entlassungsgrund war, bildete Kinseys Forschungsarbeit einen außerordentlichen Beitrag wissenschaftlicher Entmystifizierung. Kinsey war kein großer Theoretiker, und es fällt auf, daß er bei seinen Untersuchungen jeden Hinweis auf psychologische Themen vermied. Als Datensammler allerdings ist seine Bedeutung nicht hoch genug einzuschätzen. Obwohl Kinseys Arbeiten, wie Gerhard Brand schreibt, »eine monumentale Summe an Informationen über das Sexualverhalten in den USA« liefern, war sein Erbe zweigeteilt Einige Jahre nach seinem Tod erlebte das KinseyInstitut eine Phase des Niedergangs. Ein neuer Report in den 70er Jahren wurde durch die Uneinigkeit der Forscher verhindert, und als sie für die 90er Jahre einen Bericht herausgaben, war dies kaum mehr als ein Selbsthilfehandbuch, das auf die große Öffentlichkeit abzielte. Untersuchungen von William H. Masters und Virginia Johnson in den 60ern über »sexuelle Reaktionen« aber waren die logische Fortführung von Kinseys Arbeit, auch wenn ihre klinischen Beschreibungen von Sexualakten mehr wissenschaftlicher Vorwand für moralische Werte und Verhaltensnormen waren. So wie generell festzustellen ist, daß die wissenschaftliche Absicht, die in Kinseys Arbeit steckt, eine Generation nach seinem Tod nur allzu oft von ideologischen und obskuranten Zielsetzungen ab absurdum geführt wurde. |
|