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JEAN PIAGET

 
     
  JEAN PIAGET und die Entwicklung des Kindes. Lebensdaten: 1896 - 1980. Die Erforschung der geistigen Entwicklung des Kindes begann im 20. Jahrhundert mit dem Schweizer Psychologen Jean Piaget. Gestützt auf Beobachtungen und Experimente, die er in seiner langen, äußerst produktiven Karriere unternahm, legte er dar, wie das Kind sein praktisches und anschauliches Denken zugunsten eines formal-systematischen Denkens überwindet. Piaget, lange Jahre Professor am Jean-Jacques-Rousseau-Institut in Genf, war ein bescheiiden-charismatischer Wissenschaftler, dessen Reputation nach seinem Tod noch zunahm. Er hatte großen Einfluß auf die Erziehungswissenschaften, und seine Arbeiten waren wesentlich an der Entstehung der neuen kognitiven Psychologie Anfang der 60er Jahre beteiligt. Allgemein stimme man darin überein, schreibt Morton Hunt, daß Piaget »der größte Kinderpsychologe des 20. Jahrhunderts war... Der große Einfluß seines Werks gründet sich teils auf die Schönheit und Erklärungskraft seiner Thesen, teils auf die vielen bemerkenswerten Entdeckungen, die er in mühevoller Forschungsarbeit zusammentrug.« Jean Piaget wurde am 9. August 1896 in Neuchätel in der französischsprachigen Schweiz geboren. Seine Mutter stammte aus einer streng kalvinistischen Familie, sein Vater Arthur Piaget war Mediävistik-Professor. Jean galt als ernstes Kind mit einem früh ausgeprägten Interesse an der Natur. Im Alter von elf Jahren sandte er einer Naturkundezeitschrift einen Bericht über einen Albino-Sperling, den er im Park beobachtet hatte. Er freundete sich mit dem Leiter des örtlichen Museums an, begann sich für Mollusken zu interessieren und veröffentlichte mit sechzehn Jahren im Journal de la Conchyliologie seinen ersten von vielen Aufsätzen über wirbellose Tiere. Nach dem Gymnasium ging er an die Universität von Neuchätel, wo er 1918 mit einer Dissertation über die Verbreitung von Mollusken in den Schweizer Alpen promovierte. Die Biologie - soweit sie die Embryologie und Evolutionstheorie betraf - wurde zur wichtigen Grundlage seiner Forschungen. Nach dem Ersten Weltkrieg studierte Piaget in Zürich Experimentalpsychologie. Er besuchte die Vorlesungen von Eugen Bleuler und Carl Jung und lernte Formen des klinischen Gesprächs kennen, mittels denen Informationen vom Patienten zu erhalten waren. Bald darauf wechselte er nach Paris und arbeitete dort mit Theodore Simon zusammen, dem früheren Mitarbeiter ALFRED BINETS. Von Simon gebeten, einen von Cyril Burt für englische Kinder entwickelten Intelligenztest zu standardisieren, bemerkte Piagetbei bestimmten falschen Antworten auffällige Muster. »Das war der Punkt«, notiert David Cohen, »an dem Piaget außerordentlich feines Gespür bewies.« Um herauszufinden, wie und wann Kinder in der Lage sind, die Gleichwertigkeit einfacher Operationen wie 3 + 2 und 2 + 3 zu verstehen, beschloß er, einige Experimente durchzuführen. Zu Beginn seiner Karriere zeigte er sich an den Theorien SIGMUND FREUDS interessiert und publizierte einige Artikel in der Schweizer Zeitschrift Archives de Psychologie, was dazu führte, daß er 1921 an das Jean-Jacques Rosseau-Institut in Genf berufen wurde. Dort begann er am institutseigenen Kindergarten mit seinen Forschungen, beobachtete und befragte Kinder im Alter zwischen vier und sechs Jahren und wertete ihre Antworten aus. 1924 wurde sein erstes Buch über Kinderpsychologie veröffentlicht, Sprechen und Denken des Kindes. Ihm folgte eine ganze Reihe von Veröffentlichungen, darunter Urteil und Denkprozeß des Kindes, Das Weltbild des Kindes und Die Entwicklung des Zahlbegriffs beim Kinde. Noch vor seinem dreißigsten Lebensjahr war Piaget berühmt. Zu seiner wichtigsten Erkenntnis gehört, daß Kinder anders denken als Erwachsene und nur allmählich ihre altersspezifische, »primitive« Sicht der Dinge verlieren. Mit unterschiedlichem Alter glauben Kinder zum Beispiel, daß alles, was sich bewegt, lebendig sei, daß Träume von außen kämen, daß alles einen Zweck habe. Das graduelle Loslassen von diesen Sichtweisen ist ein stufenweiser Prozeß und vollzieht sich über mehrere Faktoren, die Piaget »funktionale Invarianten« nannte. Eine dieser Invarianten ist die Akkomodation und beinhaltet die Neigung eines Menschen, sich den Erfordernissen der Wirklichkeit anzupassen. Eine zweite die Assimilation, weswegen Piaget seine Theorie auch » Assimilation-Akkomodations-Modell« nannte. Assimilation - nach einem Begriff, den Piaget aus der Physiologie entlieh - bezeichnet den Prozeß, durch den das Kind Aspekte der Außenwelt in sich aufnimmt und so seine geistige und intellektuelle Entwicklung vorantreibt. Piaget benannte mehrere Formen oder Methoden der Assimilation. durch Wiederholungshandlungen, Sanktionen und Belohnungen, verallgemeinerndes Denken und »reziproke« Wahrnehmungsoperationen - Sehen und Fühlen - schaffen sich Kinder im Laufe der Zeit ein geistiges Bild der Welt und ihrer Funktionsweise. Dabei entging Piaget, der ein großer Bewunderer der erkenntnistheoretischen Schriften Kants war, keineswegs die Beziehung des kindlichen Denkens zum philosophischen Diskurs; gerne bezeichnete er seine eigenen Studien als »genetische Epistemologie«. Ein Treffen mit ALBERT EINSTEIN inspirierte Piaget zu seinem Die Bildung des Zeitbegriffs beim Kinde von 1946. Seine Theorien wurden von ihm ständig umgearbeitet und erweitert, so daß er schließlich vier grundlegende Stufen der geistigen Entwicklung unterschied. Auf der sensomotorischen Stufe - von der Geburt bis etwa zum Alter von zwei Jahren - entwickelt das Kleinkind die Fähigkeit zur Wahrnehmung sowie Verhaltensmuster zur Beeinflussung der Wahrnehmung. Die Stufe vom zweiten bis zum siebten Lebensjahr nennt Piaget die präoperationale Stufe, auf der das Kind die Sprache erwirbt und sich ein Bild der Welt aneignet; noch immer allerdings ist es nur auf sich bezogen und kann sich nicht in die Rolle eines anderen versetzen. Auf der Stufe der konkreten Operationen, von etwa sieben bis zur Pubertät, lernt das Kind zu rechnen, Ordnungsmuster anzuerkennen und über abstrakte Konzepte nachzudenken; Defizite gibt es nur auf dem Gebiet des abstrakten Denkens. Die Stufe der formalen Operationen beginnt etwa im Alter von zwölf Jahren und beinhaltet die reife Form des Denkens. Ursprünglich hatte Piaget angenommen, daß seine Untersuchungen zur Kindheitsentwicklung vier oder fünf Jahre in Anspruch nehmen würden, schließlich wurde daraus das Hauptthema seiner langen Karriere. Neben der Forschungsarbeit mit den Kindern im Rousseau-Institut beobachtete er in langer, mühevoller Arbeit auch seine eigenen Kinder Jacqueline, Lucienne und Laurent. Die Ergebnisse veröffentlichte er in einer Reihe von Büchern, die heute als Klassiker gelten: Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde von 1936, Der Aufbau der Wirklichkeit beim Kinde von 1937 und Nachahmung, Spiel und Traum. Die Entwicklung der Sprechfunktion beim Kinde (1945). Als Piaget sich in den 40er Jahren mit Kindern in der Pubertät zu beschäftigen begann - der Stufe der formalen Operationen -, da er herausfinden wollte, wie Kinder mit Veränderungen und abstrakten Gedanken zurechtkommen, begann eine neue Phase in seiner Karriere re. Von der Logik des Kindes zur Logik des Heranwachsenden, das er in Zusammenarbeit mit Bärbel Inhelder schrieb, basierte auf einer Studie, die er mit eintausendfünfhundert Schweizer Kindern durchführte. Von 1929 bis 1954 war Piaget Professor für Psychologie an der Universität Genf, wo er ab 1956 das Zentrum für genetische Epistemologie leitete. Von Studenten und Kollegen in Genf bewundert, wurde sein Werk in den 60er Jahren weltweit bekannt. Trotz der Bedeutung seiner Forschungen bedurften vieles seiner Erkenntnisse der Neuformulierung. »Piagets grandiose Behauptungen haben sich als weniger dauerhaft erwiesen als seine spezifischen experimentellen Darlegungen« schreibt Howard Gardner. »Die logischen Formalismen, die einigen seiner Stufen zugrunde liegen, gelten als überholt, sogar die Stufen selbst werden in Frage gestellt«. Aber, fügt Gardner an, »Piaget schuf ein gesamtes Teilgebiet der Psychologie - das sich mit der geistigen Entwicklung des Menschen befaßt - und lieferte dazu die Methoden, die bis zum heutigen Tag angewandt werden. Und wenn heute einige seiner Annahmen widerlegt werden, dann geschieht das in Anerkennung seines großen und weitreichenden Einfluß.« Jean Piaget starb am 17. September 1980.  
 

 

 

 
 
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