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EDWARD O. WILSON und die Soziobiologie. geb.1929. Der ursprünglich vor allem wegen seiner Ameisen-Studien bekannte Entomologe Edward 0. Wilson ist der führende Vertreter der umstrittenen Theorie der Soziobiologie. Die Theorie - sie versucht Verhaltensweisen wie Altruismus, Aggression, Partnerwahl genetisch zu erklären -wurde als wichtiges neues wissenschaftliches Paradigma gerühmt und zugleich als eine Form des genetischen Determinismus mit heftiger Kritik belegt. Wilson ist davon überzeugt, daß »die menschliche Natur als Gegenstand empirischer Forschung vollständig entschleiert, die Biologie in den Dienst aufklärerischer Erziehung gestellt und das Bild, das wir uns von uns selbst machen, gehörig und allen Ernstes bereichert werden kann.« Die von Wilson angeregte Diskussion demonstriert auf beeindruckende Weise, daß auch noch zum Ende dieses Jahrhunderts biologische Überlegungen von politischen Argumenten überlagert werden. Edward Osborne Wilson wurde am 10. Juni 1929 in Birmingham, Alabama geboren. Er erlebte eine »gesegnete Kindheit«, wie er schrieb: »Ich wuchs noch im alten Süden auf, in einer wunderbaren Umgebung, die gegen die meisten sozialen Probleme abgeschottet war.« Durch einen Unfall beim Angeln verlor er auf dem rechten Auge die Sehkraft. »Die Aufmerksamkeit meines verbliebenen Auges richtete sich auf den Boden. Und ich pries die kleinen Dinge der Welt, die Tiere, die zwischen Daumen und Zeigefinger zur näheren Betrachtung aufgegriffen werden konnten.« Als er sieben Jahre alt war, trennten sich seine Eltern Edward Wilson und Inez Freeman. 1943, im Alter von vierzehn Jahren, wurde er getauft und verlor, als er sich für die Naturwissenschaften zu interessieren begann, bald darauf seinen Glauben. 1946 schloß er in Dacatur, Alabama, die Highschool ab. Wilson studierte an der Universität von Alabama Biologie und machte 1950 seinen Master. Bereits im heimischen Süden beschäftigte er sich mit Ameisen, 1950 veröffentlichte er einen Artikel über die Dacetine-Arten, die er als »die, unter dem Mikroskop betrachtet, ästhetisch angenehmsten aller Insekten« beschrieb. Nicht überraschen konnte es, daß er sein Studium in Harvard fortsetzte, seinem »Bestimmungsort«, wie er schrieb, denn dort »gab es die größte Ameisensammlung der Welt, und die Universität verfügte über eine große und lange Tradition der Forschung und Lehre, die sich um diese Insektensammlung herum aufgebaut hatte.« 1955 promovierte er und blieb zunächst als Assistenz-Professor an der Universität. Schon als Doktorand hatte er sich für die Kommunikationsformen der Ameisen zu interessieren begonnen. Er war fasziniert vom Werk KONRAD LORENZ, der gezeigt hatte, daß Tiere auf Reize aus der Umwelt mit ganz bestimmten, vererbten Verhaltensmustern reagieren. Obwohl man zu der Zeit wenig über die chemischen Abläufe des Geruchsinns wußte, führte Wilson beeindruckende Experimente mit Feuerameisen durch. Er konnte beobachten, daß sie sich mit ihrem Stachel am Bauch berührten, den sie dann am Boden nachschleifen ließen. Wilson schnitt einzelne Ameisen auf, prüfte eingehend ihre inneren Organe und suchte nach einer Substanz, die einen angenehmen Geruch absonderte. Er fand heraus, daß die winzige Dufour-Drüse - deren Funktion noch unbekannt war -einen chemischen Kommunikatorstoff enthielt, der später als Pheromon bezeichnet wurde. In der Folge wurden weitere Pheromone entdeckt, die, in kleinsten Mengen nach außen abgegeben, hochwirksam den Stoffwechsel oder das Verhalten anderer Individuen der gleichen Art beeinflussen. Damit war der Biochemie ein neues Feld eröffnet, das nicht nur die Insektenforschung, sondern auch die Studien zu anderen Tieren und Mikroorganismen betraf. Wilsons weitere Arbeiten Mitte der 50er Jahre bildeten die Grundlage für eine Folge von wichtigen Entdeckungen in der Entomologie. 1954 reiste er nach Neu Guinea, um Ameisen zu sammeln und zu klassifizieren. Etwa zur gleichen Zeit entwickelte er zusammen mit William L. Brown eine umstrittene Kritik am Begriff der Unterart und unternahm wichtige Untersuchungen zum character displacement, dem Phänomen, daß zwei ähnliche Arten, die das gleiche geographische Gebiet bewohnen, sich genetisch unterscheiden. So können sie vermeiden, daß sie in Wettbewerb treten oder es zur Hybridbildung kommt. Daneben beschrieb er das wichtige Prinzip, das er Taxon-Zyklus nannte: die Neigung einer Art oder Gruppen von Arten, sich in gesetzmäßiger Weise an ökologische Nischen anzupassen. Der mit der Entdeckung der DNS-Struktur (1953) einhergehende Aufstieg der Molekularbiologie hatte um 1960 zu bis dahin unbekannten akademischen Fronten geführt. Wilson war, wie er sich später erinnerte, »in den Biologielabors in Harvard zwischen den Molekular- und Zellbiologen regelrecht eingezwängt worden.« Er war weder ein Freund von JAMES WATSON, den er als »Caligula der Biologie« bezeichnete, noch von ERNST MAYR, zu dem er damals ein distanziertes Verhältnis hatte. 1964 wechselte Wilson an Harvards Museum of Comparative Zoology, wo er Leiter der Entomologie wurde, während er weiterhin als Professor für Zoologie lehrte. Durch seine Ameisenstudien hatte er sich mittlerweile in der schnell fortschreitenden multidisziplinären Evolutionsbiologie einen angesehenen Ruf geschaffen. Anfang der 60er Jahre entwickelte und testete Wilson die Hypothese, daß sich Arten in bestimmten Umgebungen im Zustand eines dynamischen Gleichgewichts befinden - es sollte einer seiner ungewöhnlichsten Forschungsbeiträge werden. Mit Daniel Simberloff reiste er zu den Florida Keys, wo sie auf zwei winzigen Inseln zunächst die gesamte Fauna bestimmten. Dann löschten sie unter Mitwirkung eines professionellen Kammerjägers, der mit Methylbromid alle Lebensformen abtötete, sie systematisch aus. Nach der Ausrottung registrierten sie sorgfältig die Rekolonialisierung der Inseln und konnten nachweisen, daß - wie vorhergesagt - durch die Wiederbesiedlung das vormalige Gleichgewicht wiederhergestellt wurde. Das Florida-Keys-Experiment wurde zu einer wichtigen Grundlage für weitere Forschungen zur Ökologie und zum Umweltschutz. Mit Robert Mac-Arthur verfaßte Wilson 1967 Biogeographie der Inseln und 1971 mit William Bossert Einführung in die Populationsbiologie. Bereits zu Beginn seiner Karriere hatte sich Wilson beim Studium von Makaken über die Vielfalt des Sozialverhaltens bei Tieren Gedanken gemacht, eine neue Theorie aber war zu diesem Zeitpunkt nicht möglich. »Als geborener Vermittler«, schrieb Wilson in seiner Autobiographie, »hielt ich am Traum, einer einheitlichen Theorie fest. Anfang der 60er Jahre erblickte ich das in der Populationsbiologie, die eine mögliche Basisdisziplin für die Soziobiologie sein könnte.« Wilson entwickelte eine Theorie zur Evolution der Rangordnung und Aggression, bald darauf stieß er auf eine neue These zur Partnerwahl, was wiederum zu der Hypothese führte, daß es für altruistisches Verhalten - wenn sich ein Tier opfert, um das Überleben seiner Verwandten zu sichern - eine genetische Grundlage gebe. Nachdem er 1971 The Insect Societies veröffentlichte, das bereits einige dieser Gedanken enthielt, wurde er »vom Amphetamin des Ehrgeizes gepackt« und schrieb Sociobiology: The New Synthesis (1975). »Ich behandelte alle Organismen, die man auch nur entfernt als soziale Wesen bezeichnen konnte, von Bakterienkolonien und Amöben bis hin zu Affentrupps und anderen Primaten.« Sociobiology wurde gerühmt als Grundlage für ein neues Verständnis des (genetisch ableitbaren) Sozialverhaltens. Aber das Buch löste auch heftige Kontroversen aus, was an einem Kapitel lag: »Mensch - von der Soziobiologie zur Biologie«. Aufbauend auf den für die Insekten angehäuften Indizien legte Wilson darin dar, daß es für eine große Bandbreite menschlichen Verhaltens eine auf evolutionärer Grundlage angesiedelte, genetische Komponente gebe. Religiosität, Anpassung, sexuelle Vorlieben, Fremdenfeindlichkeit, Aggression, Opferverhalten und zahlreiche andere Eigenschaften, die man als Wesensmerkmale bezeichnen könnte, beruhen laut Wilson auf einer genetischen Grundlage. »Es ist wohl nicht zu hoch gegriffen, wenn man sagt, daß die Soziologie und die anderen Sozialwissenschaften die letzten Zweige der Biologie sind, die noch darauf warten, in die moderne Synthese eingegliedert zu werden«, schreibt er in dem Buch. Wilson war auf die Empörung, die aufgrund dieser These losschlug, nicht gefaßt. In Harvard veröffentlichten einige von Wilsons Kollegen, darunter Stephen Jay Gould und Richard C. Lewontin, einen öffentlichen Brief, in dem sie schrieben, daß die Soziobiologie die Art von Theorie sei, die »dazu neigt, eine allgemeine Rechtfertigung des Status quo und der bestehenden Privilegien abzugeben, die für bestimmte Gesellschaftsgruppen aufgrund ihrer Klassen- und Rassenzugehörigkeit und ihres Geschlechts existieren.« Es folgten zahlreiche Debatten in der Presse, an denen sich Wilson mit einem langen Artikel in der New York Times (1975) beteiligte. Für Biologie als Schicksal wurde ihm 1981 der Pulitzer Preis verliehen, und 1981 schrieb er mit Charles Lumsden Genes, Mind, and Culture. Obwohl diese Bücher die wichtigen Themen und die Frage aufgriffen, ob der Mensch Produkt seiner Gene oder der Erziehung sei, konnten sie die Thematik natürlich nicht lösen. Nach der Veröffentlichung von Das Feuer des Prometheus, das Wilson ebenfalls mit Lumsden verfaßte, zog er sich aus der Debatte zurück; er habe, so sagte er, damit sein abschließendes Wort dazu gegeben. Die Konsequenzen, die sich aus der Soziobiologie für das menschliche Verhalten ergeben, sind vielfältig und kontrovers und haben eine Reihe von Forschungen angeregt, die den Standpunkt der Befürworter untermauern, die Gegner aber keineswegs überzeugen konnten. »Eine Gesellschaft, die meint, die Existenz von angeborenen, epigenetischen Gesetzmäßigkeiten ignorieren zu müssen, wird dennoch von ihnen gesteuert und unterwirft sich - aus eigenem Versäumnis - bei jeder Entscheidung ihrem Diktat«, warnte Wilson am Ende von Das Feuer des Prometheus. »Wirtschaftspolitik, Moralsätze, die Erziehung von Kindern, fast jede soziale Aktivität wird von inneren Gefühlen geleitet, deren Ursprünge außerhalb jeden Verständnisses liegen.« Gleichzeitig konnte man natürlich argumentieren, daß die Soziobiologie insofern gefährlich sei, da sie das Verständnis von diffizilen Äußerungen der menschlichen Intelligenz, der Gefühle und des Verhaltens erschwert oder gar verhindert. »Verfolgt die Soziobiologie unausgewogene und spekulative genetische Argumente für bestimmte menschliche Verhaltensweisen«, schreibt Stephen Jay Gould, »dann redet sie Unsinn. Ist sie ausgewogen und impliziert sie freiweg, daß die Genetik die Grundlage für ein breites Spektrum an kulturell konditionierten Verhaltensweisen liefert, dann ist sie nicht besonders erhellend.« Der kontroverse Charakter der Soziobiologie erklärt sich daraus, daß sie im höchsten Maße reduktionistisch und spekulativ ist und bei der Erklärung komplexer Verhaltensweisen - wie der Homosexualität - auf genetische Platitüden zurückgreift. Die Debatte ist noch lange nicht vorüber, und erst kürzlich äußerte sich Michael Lind, daß »sowohl die radikalen Umweltschützer wie die simplen Befürworter der Soziobiologie, die versuchen, bestimmte Verhaltensweisen einzig und allein genetisch zu erklären, in der wissenschaftlichen Gemeinschaft einem nuancierten Einverständnis Platz zu machen scheinen, dem zufolge das menschliche Potential zwar flexibel ist, an den Rändern aber durch die Vererbung eingeschränkt wird.« In den letzten Jahren engagierte sich Wilson, besorgt über den zunehmenden Verlust an biologischer Vielfalt, der Zerstörung der Regenwälder und anderer natürlicher Lebensräume, im Umweltschutz. Er entwickelte eine spekulative Theorie namens »Biophilia« zur Erklärung der Affinität, die Menschen anderen Lebewesen entgegenbringen. Ameisen, 1991 veröffentlicht, trug ihm den zweiten Pulitzer Preis ein, einhellig positiv beurteilt wurde auch sein 1992 veröffentlichtes Der Wert der Vielfalt. Edward Wilson hatte 1955 Irene Kelly geheiratet, der Ehe entstammt eine Tochter, Catherine. Sein 1994 veröffentlichtes Naturalist ist eine elegant geschriebene Mischung aus intellektueller und persönlicher Autobiographie. Zu den vielen wissenschaftlichen Auszeichnungen Wilsons gehören die National Medal of Science (1977), der Crafoord-Preis der königlich-schwedischen Akademie der Wissenschaften (1990) und der Internationale Preis der japanischen Regierung für Biologie (1993). |
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